Die ganze Geschichte:
Die kleine Meerjungfrau ist ganz allein. Traurig sitzt
sie auf einem Felsen und betrachtet ihr einsames
Spiegelbild im Wasser.
„Ach“, seufzt sie sehnsuchtsvoll: „Ich hätte gerne eine
Freundin, die so ist wie ich. Mit einer Fischflosse,
langen blonden Haaren und einer wundervollen
Stimme. Ich habe überall nach ihr gesucht. Hinter
jeder Wasserpflanze, jeder Koralle und hinter jedem
Riff. Doch nirgendwo habe ich sie gefunden. Im
ganzen Ozean ist niemand so allein wie ich.“
Die kleine Meerjungfrau ist so verzweifelt, dass sie ihr
Gesicht in den Händen vergräbt. Sie weint dicke
Kullertränen. Und vergisst alles andere um sich
herum.
Doch das ist ein Fehler. Denn mit dem Meer
stimmt irgendetwas nicht. Es wird immer unruhiger,
obwohl Windstille herrscht. Es fühlt sich fast an wie
ein Seebeben. Was ist bloß los mit dem Meer? Jetzt
teilt sich die Wasseroberfläche und gibt ein riesiges
Haupt frei. Es ist der Kopf eines Seeungeheuers.
Ohne dass die kleine Meerjungfrau es bemerkt,
schwimmt das Monster immer näher heran. Seine
Haut glänzt schuppig-grün. Seine Augen leuchten
feurig-gelb. Aus seinem Kopf wachsen zwei
furchterregende Hörner.
Das Seemonster sieht genauso seltsam aus wie die
Meerjungfrau – nur eben ganz anders. Interessiert
betrachtet es das seltsame Wesen mit der
Fischflosse. „Wollen wir Freunde sein? “, faucht es
freundlich.
Da endlich hebt die kleine Meerjungfrau den Kopf. Als
sie den Drachen erblickt, erschreckt sie sich sehr.
„F-Freunde?“, stammelt sie entgeistert. „D-das g-geht
d-doch n-nicht.“
Das Ungeheuer ist ein wenig schwer von Begriff.
„Warum geht das nicht?“, will es wissen.
Die kleine Meerjungfrau schluckt ihre Angst herunter.
„Na, weil …wir ganz verschieden sind“, stellt sie tapfer
klar. „Sieh uns doch an.“
Doch der Drache ist nicht so leicht abzuweisen. „Sind
wir zu verschieden, um zusammen schwimmen zu
gehen?“, fragt er stur. Seine Augen funkeln
unternehmungslustig und einladend.
Die kleine Meerjungfrau ist drauf und dran zu sagen:
„Allerdings. Dafür sind wir zu verschieden.“
Doch dann klappt sie den Mund zu und überlegt. Sie hat
tatsächlich mehr Lust schwimmen zu gehen als auf
einem Felsen zu hocken und zu weinen. Was schadet
es schon eine Pause einzulegen vom Taurig-sein?
Und deshalb lächelt sie und sagt: „Gemeinsam
Schwimmen ist in Ordnung.“ Obwohl es für eine
Meerjungfrau eigentlich absolut nicht in Ordnung ist
mit einem Drachen zu schwimmen.
Das Seemonster ist begeistert über die Zusage. Es
schillert nicht mehr grün, sondern läuft vor Freude rot
an.
Die kleine Meerjungfrau hüpft ins Wasser und
schwimmt mit dem Drachen um die Wette. Das macht
richtig Spaß. Im offenen Meer ist das Ungeheuer
schneller als die Meerjungfrau – weil es größer und
kräftiger ist. Aber im Korallenriff hat die Meerjungfrau
die Nase vorn – weil sie kleiner und wendiger ist. Der
Tag vergeht im Handumdrehen.
„Das war toll“, strahlt das Seemonster am Ende des
Tages. „Ich bin lange nicht mehr so glücklich
gewesen.“
„Mir geht es auch so“, räumt die kleine Meerjungfrau
ein. „Die Zeit mit Dir hat großen Spaß gemacht hat.“
Der Drache ist begeistert über das Lob.
„Dann sind wir also jetzt Freunde?“, will er wissen.
Doch die kleine Meerjungfrau schüttelt den Kopf. Sie
sieht auf einmal wieder ganz traurig aus. „Wir können
zwar zusammen schwimmen. Aber wir können keine
Freunde sein“, beharrt sie. „Weil wir zu verschieden
sind.“
Das versteht das Seemonster nicht. Weil es immer
noch schwer von Begriff ist. „Wozu sind wir zu
verschieden?“, fragt es deshalb ein wenig dumm.
„Genügt es denn nicht, zusammen zu schwimmen?“
Die Meerjungfrau seufzt. „Wir sind zu verschieden, um
gemeinsam zu singen“, erklärt sie geduldig. „Das ist
sehr wichtig für eine Meerjungfrau.“ Sie setzt sich auf
den Felsen und stimmt mit ihrer wundervollen Stimme
ein trauriges Lied an. Es handelt von Sehnsucht und
unerfüllten Träumen.
Der Drache lauscht ergriffen. Das Lied gefällt ihm sehr
gut. Das Seemonster hat noch nie zuvor etwas so
Schönes gehört. Am liebsten würde es auch so
herrlich singen können wie die kleine Meerjungfrau.
Das Ungeheuer versucht es. Aus seiner Kehle kommt
ein rauchiges Fauchen. Das klingt ganz anders als bei
der Meerjungfrau. Doch das Seemonster ist nicht so
leicht zu entmutigen. Unbeirrt versucht es zu singen.
„Fauch, frauch“, macht es wieder und wieder.
Qualmwolken steigen auf, so sehr bemüht sich das
Seeungeheuer darum, mit der Meerjungfrau zu
singen. Vor Anstrengung tut sein Hals weh. Er
schillert nicht mehr grün, sondern leuchtet feuerrot.
Der Drache bekommt zum ersten Mal in seinem
Leben eine fiese Halsentzündung. Nun kann er nicht
einmal mehr fauchen. Sondern nur noch jämmerlich
krächzen – wie ein ganz gewöhnlicher Rabe. Das
Seeungeheuer schämt sich sehr.
Tröstend nimmt die kleine Meerjungfrau das Monster
in die Arme. Weil es sich so viel Mühe gegeben hat
mit dem Singen nach Meerjungfrauenart.
„Vielleicht“, sagt sie gerührt, „können wir doch
Freunde sein.“
Das Seemonster aber ist sich da nicht mehr sicher. Es
fühlt sich ganz elend. Sein Atem ist fiebrig heiß. Als
der Drache hustet, speit er aus Versehen Feuer. Das
Feuer erwärmt das Wasser und erleuchtet den
Himmel. Es sieht wunderschön aus.
Die Meerjungfrau ist fasziniert. Nie zuvor hat sie so etwas
Phantastisches gesehen und erlebt. Am liebsten
würde sie selbst Feuer speien können. Die
Meerjungfrau versucht es. Doch außer Spucke kommt
nichts aus ihrem Mund heraus. Aber so schnell gibt
die Meerjungfrau nicht auf. Sie versucht es wieder
und wieder. „Spuck, spuck,“ macht sie. Sie übt so
lange bis auch ihr Hals weh tut. Und ihre Stimme
heiser wird. Nun krächzt auch die kleine Meerjungfrau
wie ein ganz gewöhnlicher Rabe. Nie zuvor ist ihr so
etwas Peinliches passiert. Die kleine Meerjungfrau
schämt sich sehr.
Tröstend streicht das Seeungeheuer ihr über die
Wange. Weil sie sich so viel Mühe gegeben hat mit
dem Feuer-speien nach Drachenart.
„Das ist wahre Freundschaft“, murmelt es gerührt.
Diesmal widerspricht die
kleine Meerjungfrau nicht.
Weil sie genau dasselbe
fühlt wie das Seemonster,
das so faszinierend anders
ist als sie selbst.
Von da an
sind die kleine Meerjungfrau und der Drache Freunde.
(967 Wörter)
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