Die ganze Geschichte:
„Heute ist ein besonderer Tag“, begrüßt Frau Müller die Klasse 3b. „Wir erwarten einen Gastschüler. Er kommt von weit her, um unsere Sprache zu lernen. Ich möchte, dass ihr ihn freundlich aufnehmt.“
Erwartungsvoll sieht Frau Müller in die Runde. Einige nicken folgsam. Andere sitzen da mit offenen Mündern.
Ich hingegen peile blitzschnell die Lage. Und stecke mein Revier ab. Ich verbarrikadiere den freien Platz neben mir mit Heften und Büchern. „Da kommt niemand hin“, soll das heißen. Bestimmt wird der Neue die Botschaft kapieren und mich in Ruhe lassen.
Ella aus der ersten Reihe meldet sich. „Wir könnten die Klasse schmücken“, schlägt sie vor. „Zur Begrüßung“.
„Das ist eine gute Idee“, lobt Frau Müller. Sie geht zum Klassenschrank und holt eine Girlande aus Papierblumen hervor. Die befestigt sie an der Tafel. Ella schnappt sich die Kreide. „Herzlich willkommen“, schreibt sie an. In ihrer sorgfältigen Schrift.
Meine Laune sinkt noch weiter. Seit 3 Jahren gehe ich in die Schule. Bei Hitze, Kälte, Regen, Wind und Schnee. Noch nie wurde ich mit Blumen begrüßt. So wie der Neue. Dessen einziger Verdienst es ist, von weit her zu kommen und unsere Sprache zu mögen.
Die Tür öffnet sich. Die Direktorin kommt herein. Im Schlepptau hat sie den schrägsten Vogel aller Zeiten. „Ich sehe, ihr freut euch schon“, strahlt sie mit Blick auf die geschmückte Tafel.
„Freuen, von wegen!“, schnaube ich. Und hieve meinen Ranzen auf den freien Stuhl neben mir. Als unübersehbares „Besetzt“-Zeichen.
Doch die Direktorin hat irgendwie Tomaten auf den Augen. Wahrscheinlich hat sie vergessen, ihre Brille zu putzen. Sie weist dem Neuen ausgerechnet meine Richtung.
Dort sitzt er nun, gleich neben mir - in der hintersten Ecke der Klasse. Weit weg von Frau Müller, von Ella, dem Willkommensgruß und der Blumengirlande. Als unerwünschter Eindringling. Mitten in meiner Problemzone aus Ranzen, Heften und Büchern. Schlechter hätte er es gar nicht treffen können. Er ist ein echter Pechvogel. Das macht in fast ein wenig sympathisch. Ein spöttisches Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Unauffällig mustere ich den Neuen.
Eigentlich passt er bestens in meine Chaoszone. Sprache ist noch sein geringstes Problem. Der Neue eckt schon an, bevor er den Mund aufmacht. Denn er ist eine ausgewachsene Styling-Katastrophe. Wer kommt auf die Idee, ein knöchellanges Gewand zu tragen – wie ein Gespenst? Dazu schulterlange Locken mit einem Glitzerreif – wie ein Heiligenschein? Am bescheuertsten aber sind seine Flügel – wie bei einem Engel. Wahrscheinlich kommt er direkt von einem Kostümball für Idioten. Oder von Wolke sieben.
Ich stupse den Neuen an. „Du hast wohl eine Bruchlandung gemacht, was?“, stichele ich mit einem schadenfrohen Grinsen. Verächtlich zupfe eine Feder aus seinen bescheuerten Flügeln.
Der Traumtänzer belohnt mich mit einem strahlenden Lächeln. Entweder steht er auf der Leitung. Oder er ist verrückt. Schon lange war niemand mehr so freundlich zu mir.
„Der Fantast braucht dringend Bodenkontakt“, beschließe ich. Und angele die Schere aus meinem Mäppchen. Damit schneide ich eine Locke aus seinem lächerlichen Haar. Und halte sie ihm direkt unter die Nase. Bestimmt rafft er jetzt, dass wir nicht befreundet sind.
Aber Fehlanzeige! Der sonderbare Neue nimmt meine Hand und schließt sie mit Nachdruck um die stibitzte Locke. Als sei sie ein wertvolles Geschenk. Speziell für mich. Das Haar fühlt sich weicher an als Seide. Noch nie war jemand so nachsichtig mit mir.
Ich fühle meine Wangen rot werden. „Na, warte“, denke ich. „Dir wird die Herzensgüte noch vergehen, du dämlicher Himmelsbote.“ Entschlossen klaue ich den albernen Heiligenschein aus seinem Haar. Und schleudere ihn vor die Füße des gestrandeten Engels. Jetzt endlich wird er wohl kapieren, dass ich auf seine Friedfertigkeit pfeife.
Doch der Himmelsbote ist unverwüstlich! Bevor ich es verhindern kann, hebt er den Heiligenschein auf und befestigt ihn in meinem Haar. Ich fühle den leichten Druck. Fast wie ein Streicheln. Und eine unendliche Güte. Noch nie war jemand so großherzig zu mir. Ich bin platt.
Dieses Mal versuche ich es mit einem ehrlichen Lächeln. Das ist ganz schön ungewohnt. Es dauert ein bisschen, bis ich es halbwegs zustande bringe. Der Engel ermutigt mich mit einem Nicken.
Mein neuer Heiligenschein wiegt immer schwerer. Da merke ich, dass mein Kopf auf dem Pult liegt. Weil ich eingeschlafen bin, mitten im Klassenzimmer. Frau Müller streicht mir übers Haar. „Du willst doch nicht deinen Geburtstag verschlafen“, lächelt sie.
Die Klasse lacht. Die Tafel ist mit einer Blumengirlande geschmückt. „Herzlichen Glückwunsch!“, steht da - in Ellas sorgfältiger Schrift. Draußen scheint die Sonne. Genau wie in meinem Herzen. In dem ab heute ein Engel wohnt. Und das ist ganz und gar nicht bescheuert. Sondern fühlt sich richtig gut an.
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